Vitalik Buterin, Gründer und Galionsfigur des (nach Marktkapitalisierung) zweitgrößten Krypto-Netzwerks Ethereum, überraschte die Twitter-Community am vergangenen Dienstag mit der öffentlichen Thematisierung einiger innerer Konflikte in seinem Denken und seinen Werten, die ihn zum Nachdenken angeregt haben. Sein Thread ist, auch zwischen den Zeilen, eine wunderbare Zusammenfassung der Unterschiede zwischen Bitcoin und Altcoins, wie das von ihm geschaffene Projekt, Ethereum. Zwischen theoretischen Plänen und Idealen und deren realistischer Umsetzung in der Praxis gibt es oftmals - und besonders in der Welt der Kryptowährungen - eine große Diskrepanz.

"Thema: einige noch offene Widersprüche in meinem Denken und meinen Werten, über die ich bereits nachgedacht habe, die ich aber noch nicht ganz gelöst zu haben glaube."

@VitalikButerin

Alles geht mit Trade-offs einher!

Im Grunde geht nahezu alles in unserer Welt und jegliches Handeln immer mit Kompromissen (Trade-offs) einher. Jede Handlung, für deren Ausführung man sich entscheidet, hat beispielsweise Opportunitätskosten. Im Krypto-Space ist das sogenannte "Trilemma" ein bekanntes Beispiel für die Visualisierung der Trade-offs, die von Projekten gemacht werden müssen.

Das Trilemma besagt, dass ein Distributed-Ledger-Projekt stets nur zwei der drei Bausteine Dezentralität, Sicherheit und Skalierbarkeit erreichen kann. Bei der Implementierung eines DLTs müssen also immer Kompromisse auf die Kosten des dritten Bausteins eingegangen werden. Während sich die Bitcoin-Community darauf geeinigt hat, die Sicherheit und Dezentralität in den Fokus zu rücken und entsprechend Abstriche bei der Skalierbarkeit der Blockchain zu machen, geht Ethereum beispielsweise einen anderen Weg.

Für die Ethereum-Foundation und deren Community stehen hingegen die Skalierbarkeit und Funktionsvielfalt des Protokolls an erster Stelle. Dafür müssen jedoch gemäß dem Trilemma Trade-offs hinsichtlich der Dezentralität und Sicherheit eingegangen werden. Während jede Weiterentwicklung des Bitcoin-Netzwerks lange diskutiert wird und der Programmcode sowie der Funktionsumfang möglichst klein gehalten werden, um Stabilität zu garantieren, weist Ethereum eine hohe Komplexität auf und es kommt oftmals zu kurzfristigen Veränderungen, die Spielraum für Fehleranfälligkeiten schaffen.

Dies führt uns direkt zu Vitalik Buterins inneren Konflikten.

Die Widersprüche von Vitalik

Buterin führte insgesamt zehn Widersprüche auf, die ihn beschäftigen. Interessanterweise handeln diese Widersprüche nicht nur von Ethereum, sondern auch von seinen persönlichen Vorstellungen. Um Ethereum wirklich verstehen zu können, muss man auch verstehen, wie die zentrale Person hinter Ethereum denkt und wo sich die Gedankengänge von dem Bitcoin-Ethos unterscheiden. Sehen wir uns die Widersprüche von Vitalik der Reihe nach an:

"Der Widerspruch zwischen meinem Wunsch, Ethereum zu einem eher Bitcoin-ähnlichen System zu machen, das langfristige Stabilität betont, auch kulturell, und meiner Erkenntnis, dass der Weg dorthin eine Menge aktiver, koordinierter kurzfristiger Veränderungen erfordert."

Hier ist ein erster klarer Unterschied zu Bitcoin zu erkennen. Bitcoin ging einen komplett anderen Weg in seiner Anfangszeit. In den ersten Jahren besaß Bitcoin keinen monetären Wert und hatte somit keinen finanziellen Anreiz benutzt zu werden. Bitcoin stellte sich dem harten Weg des Monetisierungsprozesses und es gleicht einem Wunder, dass Bitcoin die frühen Jahre überlebt hat. Als Satoshi wusste, dass sein Projekt eine reelle Wahrscheinlichkeit des Überlebens besitzt, verschwand er und hinterließ ein komplett dezentrales Open-Source Netzwerk. Ethereum fehlte dieser Überlebensmechanismus der frühen Tage. Zu keiner Zeit war Ethereum auf sich allein gestellt und konnte sich auf die im Hintergrund operierende Ethereum Foundation verlassen. Aufgrund der fehlenden Robustheit, benötigt Ethereum deshalb Eingriffe in das Netzwerk. Ein dezentrales und robustes System wie Bitcoin lässt sich mit diesem Interventionismus aber nicht erschaffen.

"Der Widerspruch zwischen meiner Vorliebe, die Abhängigkeit von Einzelpersonen zu reduzieren und dem Versuch, feste Systeme aufzubauen, die den Test der Zeit bestehen können, und meiner Wertschätzung für „aktive Spieler“ und ihrer Rolle, die Welt zu verbessern."

Vitalik spricht hier das Dilemma zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung an. Zentralisierung ist per se nichts Schlechtes. Viele Errungenschaften und Erfindungen der Menschen können auf zentrale Entitäten zurückgeführt werden. Die Bitcoin-Community hat sich inzwischen von dem Gedanken verabschiedet, jeden Bereich des Lebens dezentralisieren zu wollen und konzentriert sich primär auf das Geldsystem. Die Geschichte des Geldes hat nämlich gezeigt, dass hier wirklich dezentrale Strukturen benötigt werden. Bei vielen dezentralen Anwendungen auf der Ethereum Blockchain muss die Frage gestellt werden, ob eine zentrale Lösung dafür nicht besser geeignet wäre, denn die meisten vermeintlich "dezentralen" Projekte haben im Hintergrund ohnehin oft eine zentrale Entität. Aus diesem Grund könnten die allermeisten Projekte von Anfang an komplett zentral und dadurch deutlich effizienter geführt werden. Es scheint, als würde auch Vitalik immer mehr von der Idee der dezentralen Welt abrücken und sich auf die wichtigen Bereiche konzentrieren.

"Der Widerspruch zwischen meinem Wunsch, Ethereum zu einem L1-Netzwerk zu machen, das wirklich extreme Umstände überstehen kann, und meiner Erkenntnis, dass viele wichtige Apps auf Ethereum bereits auf weitaus fragileren Sicherheitsannahmen beruhen als alles, was wir im Ethereum-Protokolldesign für akzeptabel halten."

Ethereum ist im Jahr 2015 erschienen und bis heute weiß das Netzwerk nicht, was es wirklich werden will. Denn was ist Ethereum genau? Eine Plattform für dezentrale Anwendungen, eine Web3-Plattform oder dann doch "Ultra-Sound-Money"? Und auf welchem Konsensmechanismus soll Ethereum langfristig laufen? Proof-of-Work oder Proof-of-Stake? Und wer garantiert, dass die Umstellung auf Ethereum 2.0 klappen wird? Auch bei Bitcoin passte sich der Use Case immer wieder an. Der Unterschied ist aber, dass die Netzwerkregeln von Bitcoin in Stein gemeißelt worden sind. Satoshi hat Bitcoin eine Identität gegeben, Ethereum fehlt diese. Die Folge ist, dass Anwendungen auf Ethereum gebaut werden, die nicht den Werten und Sicherheitsstandards von Ethereum entsprechen.

"Der Widerspruch zwischen meiner Liebe zu Dingen wie Dezentralisierung und Demokratie und meiner Erkenntnis, dass ich in der Praxis mit intellektuellen Eliten in vielen (wenn auch bei Weitem nicht allen) spezifischen politischen Fragen mehr einer Meinung bin als mit dem Volk."

Vitalik äußert hier seinen ersten moralischen Konflikt. Es ist schon eine alte Grundsatzfrage, ob der Mensch mit der Demokratie vereinbar ist oder ob es nicht besser ist, wenn ein Herrscher zentral über die Menschen regiert und damit den Menschen das Treffen von Entscheidungen abnehmen soll. Die interessante Frage ist, von welcher intellektuellen Elite Vitalik hier spricht? Mit den Grundprinzipien von Bitcoin hat dies nichts zu tun. Bitcoin ist Geld von den Menschen für die Menschen. Auch muss die Frage gestellt werden, ob Vitalik ein dezentrales System wie Ethereum leiten kann, wenn er solche Grundsatzprobleme in sich trägt. Moralisch gesehen ist diese technokratisch angehauchte Aussage von Vitalik sehr bedenklich.

"Der Widerspruch zwischen meinem Wunsch, mehr Länder zu sehen, die radikale politische Experimente durchführen (Krypto-Länder!) und meiner Erkenntnis, dass die Regierungen, die solche Wege am ehesten bis zum Ende gehen, eher zentralisiert und intern nicht freundlich zur Vielfalt sind."

Diesem Widerspruch würde ein Teil der Bitcoin-Community sicherlich zustimmen. Die Einführung des Bitcoins als gesetzliches Zahlungsmittel in El Salvador sorgte bei so manchen für Bedenken. Vor allem die staatliche Chivo-App beunruhigte breite Teile der Bitcoin-Community. Dennoch bleibt die Frage, was ist die Alternative? Bitcoin ist ein offenes dezentrales Netzwerk, dem jeder beitreten kann und damit auch Staaten und Regierungen. Von allen Widersprüchen, die Vitalik in sich trägt, ist dieser aber wahrscheinlich der verständlichste.

"Der Widerspruch zwischen meiner Abneigung gegen viele moderne Finanz-Blockchain-Anwendungen($3M-Affen usw.) und meiner widerwilligen Wertschätzung für die Tatsache, dass dieses Zeug einen großen Teil dessen ausmacht, was die Krypto-Ökonomie am Laufen hält und all meine liebsten DAO/Governance Experimente bezahlt."

Vitalik kritisiert hier offen die Anwendungen, die seine Erfindung erschaffen hat und befindet sich in einem Dilemma, denn schließlich finanzieren diese Applikationen gleichzeitig sein Projekt. Dem liegt auch wieder das Hautproblem von Ethereum zugrunde. Ethereum weiß nach sieben Jahren immer noch nicht, was es wirklich sein will. Die höhere Funktionalität des Base-Layers hat solche Anwendungen erst möglich gemacht. Wenn nach sieben Jahren der Gründer das NFT-Ökosystem des Ethereum-Netzwerkes so kritisiert, kann dies schon fast als Verzweiflung seitens Vitaliks betrachtet werden.

"Der Widerspruch zwischen meinem Wunsch, dass Krypto über das Finanzwesen hinauswächst, und meiner Erkenntnis, dass Finanzen (einschließlich Zahlungen + Wertaufbewahrungsspeicher) immer noch bei Weitem die erfolgreichste Kategorie von Krypto-Apps sind, insbesondere unter Drittweltbewohnern, Menschenrechtsaktivisten und schutzbedürftigen Menschen im Allgemeinen."

Auch hier kann man den unterschiedlichen Grundethos zwischen Bitcoin und Ethereum beobachten. Bei Bitcoin war die finanzielle Inklusion schon immer ein zentraler Bestandteil. Bei der Bitcoin-Adoption El Salvador und der zentralafrikanischen Republik stand die finanzielle Inklusion im Mittelpunkt. Für diese Länder sind NTFs oder die neusten DeFi-Anwendungen nicht relevant, sondern der Bitcoin als Garantie für ihr grundlegendes Menschenrecht ein Teil des globalen Finanzsystems zu sein. Alternative Krypto-Projekte in solchen Ländern sind bisher immer gescheitert. Ein anschauliches Beispiel war das Projekt Cardano in Äthiopien. Im Jahr 2018 versuchte Cardano die Blockchain nach Äthiopien zu bringen. Nach mittlerweile vier Jahren kam noch immer nicht mehr als ein paar Ankündigungen dabei heraus.

"Der Widerspruch zwischen meinem Wunsch, den Baselayer maximal zu vereinfachen, und gleichzeitig meinem Wunsch, das gesamte Ökosystem von Ethereum maximal zu vereinfachen."

Auch dieses Problem ist darauf zurückzuführen, dass Ethereum nicht weiß, was es wirklich ist. Die Umstellung auf Ethereum 2.0 garantiert weder, dass der Baselayer noch das gesamte Ökosystem vereinfacht wird. Es kommen nur noch mehr Fragen auf, wie Ethereum in Zukunft funktionieren wird und wer garantieren kann, dass das Netzwerk auch noch in 10 Jahren nach denselben Regeln operiert. Bitcoin hat seine festen Netzwerkregeln. Der Nutzer kann sich sicher sein, dass auch in 100 Jahren exakt die vorhersehbare Anzahl von Bitcoins im Umlauf befindlich sein wird. Bei Ethereum ist dies nicht möglich.

"Der Widerspruch zwischen meinem Wunsch, eine positive Vermittlerfigur zu sein, die jedermanns Freund sein kann und meinem Wunsch, in Zeiten, in denen wir dem wahren Bösen gegenüberstehen, stark mit dem Guten gegen das Böse zu stehen."

Der letzte Konflikt von Vitalik ist wieder von moralischer Natur. Es liegt in der Natur des Menschen auf der Seite zu stehen, die er individuell für richtig hält. Daher ist die Aussage von Vitalik auf den ersten Blick nicht verwerflich. "Toxische Bitcoin-Maximalisten", werden oft für ihre giftige Art kritisiert. Tatsächlich ist es aber so, dass diese Leute den Konflikt, den Vitalik hier anführte, für sich selbst bereits gelöst haben. Viele Bitcoin-Maximalisten, die sich "toxisch" verhalten, haben sich bewusst für die Seite entschieden, dem "Bösen" (= Betrügerische Altcoins, Zentralisierte Projekte etc.) stark gegenüberzutreten und eben nicht jedermanns Freund zu sein.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass Vitalik einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung von Ethereum hat. Technologie sollte aber nie von politischer Natur sein. Technologie ist apolitisch. Gibt es aber eine zentrale Person im Hintergrund, die sich im Gewissenskonflikt befindet, kann diese Neutralität schnell verloren gehen. Es ist kein Zufall, dass Satoshi verschwunden ist. Das Verschwinden von Satoshi war das Symbol der Aufopferung für das Projekt Bitcoin. Nur so konnte garantiert werden, dass ein solcher Gewissenskonflikt niemals auftreten kann. Ethereum als zentraleres Projekt als Bitcoin wird immer einen solchen Gewissenskonflikt besitzen.

Fazit

Vitalik Buterin gab in dem Twitter-Thread tiefe persönliche Einblicke. Es ist sehr empfehlenswert, sich den gesamten Twitter-Thread nochmals in Ruhe durchzulesen. Einige angeführte Punkte von Vitalik sind äußerst kritisch zu betrachten, vor allem seine Aussage zur Grundsatzfrage der Demokratie. Hier wäre es noch interessant zu wissen, von welchen Eliten Vitalik gesprochen hat. Der Twitter-Thread von Vitalik stellt die Unterschiede zwischen Bitcoin und Ethereum dar. Bitcoin als einziges dezentrales System ist Geld von den Menschen für die Menschen, während Ethereum sich immer noch in der Selbstfindungsphase befindet. Anscheinend hat dies inzwischen auch Vitalik verstanden.