Der Fall um den WikiLeaks-Gründer, Cypherpunk und Bitcoin-Pionier Julian Assange hat gestern einen weiteren Verlauf genommen.

Nach den im Jahr 2010 veröffentlichten Leaks – unter anderem von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der USA – hat der heute 53-jährige Informationsaktivist seit nunmehr 14 Jahren aufgrund politischer Verfolgung auf seine Freiheit verzichtet respektive verzichten müssen. Bis 2019 wurde ihm Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London gewährt. Die letzten fünf Jahre saß Assange wie ein Schwerverbrecher unter Einschränkungen, Isolation und deren gesundheitlichen Auswirkungen in dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. 

Über einen Monat nach Prozessbeginn zum Auslieferungsantrag der USA hat der High Court im Royal Court of Justice in London gestern entschieden, dass Assange vorerst nicht an die USA ausgeliefert wird. Die endgültige Entscheidung wurde vertagt.

Zusammenfassung der Anhörungen

Am 20. Februar 2024 begann der Gerichtsprozess im Royal Courts of Justice in London. Der Journalist Richard Medhurst hat den Prozess begleitet und berichtete darüber auf der Social-Media-Plattform 𝕏. Aufgrund von Platzmangel, technischen Problemen und Schwierigkeiten mit der Akustik im Gerichtssaal herrschten erschwerte Bedingungen für die Berichterstattung.

Julian Assange war aufgrund seines gesundheitlichen Zustands nicht anwesend. Die Anwälte von Assange, Mark Summers und Edward Fitzgerald, haben während der ersten Anhörung probiert, das Gericht zu überzeugen, dass jede Auslieferung aufgrund politischer Anschuldigungen bzw. politischer Straftaten (dazu gehören auch Spionage und Hochverrat) einen Verstoß gegen Abschnitt 4 des Auslieferungsvertrags zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich aus dem Jahr 2003 darstellt. Diese Regelung sei auch in nahezu jedem internationalen Vertrag enthalten, den Großbritannien unterzeichnet hat, und wird von der UNO, der Interpol-Konvention und in zahlreichen westlichen Demokratien wie Kanada, Argentinien, Spanien und Deutschland geschützt. Außerdem kann sich Assange immer noch auf einige Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) berufen.

Für die Auslieferung sei zudem entscheidend, dass das mutmaßliche Verbrechen in beiden Ländern als Verbrechen eingestuft werden muss. Folgt man den Ausführungen der Verteidigung, so würde mit einer Entscheidung für die Auslieferung journalistische Arbeit sowohl in den USA als auch in Großbritannien im Wesentlichen als ein kriminelles Verhalten gelten.

Die möglichen Folgen für Assange

Assanges Verteidigung legte zudem dar, welche Folgen seine Auslieferung an die USA haben könnte. Für seine journalistische Arbeit drohen ihm dort weitere unmenschliche Behandlungen, lange Haftstrafen von bis zu 175 Jahren, willkürliche Erweiterungen der Anklage – meist ohne zulässige Beweise – bis hin zur Todesstrafe, die bereits mehrere US-Präsidenten in Betracht gezogen hatten. Auch gab es seitens der US-Regierung sogar schon Entführungs- und Mordpläne, sodass man die Sicherheit von Assange in den USA alles andere als garantieren kann.

Außerdem könnten die USA das 1917 erlassene Spionagegesetz gegen den Journalisten und Nicht-US-Staatsbürger anwenden. Dabei werden Veröffentlichungen, die im öffentlichen Interesse sind, nicht geschützt und somit die Meinungs- und Pressefreiheit mit Füßen getreten und das US-Strafgesetz auf die ganze Welt ausgedehnt. Assange könnte mit Spionen oder Regierungsangestellten gleichgesetzt werden, obwohl er nicht für einen Staat, sondern für die gesamte Menschheit arbeitete. Zudem ist Assange kein US-Bürger und hätte demnach kein Recht auf den ersten Verfassungszusatz, könnte aber trotzdem nach US-Recht für etwas verfolgt werden, das außerhalb der USA stattfand. Zusicherungen seitens der USA, Assange nicht zu töten oder zu misshandeln, existieren nicht und wurden von Großbritannien bis zum gestrigen Urteil – einen Monat nach der Anhörung – auch nicht eingefordert.

Die Argumente der Gegenseite

Die Anwälte der USA, Dobbin und Smith, probierten hingegen, Assange nicht als Journalisten, sondern als Kriminellen darzustellen, der die Informanten durch die namentliche Erwähnung gefährdet und sich durch Hacken Informationen beschafft hat. Dies hätte auch die Arbeit der Sicherheitsbehörden und der US-amerikanischen Streitkräfte gefährdet. Demnach würde es sich nicht um politische Verfolgung bzw. Straftaten handeln, sondern um die Verletzung mehrerer Gesetze. Das Oberste Gericht sollte überzeugt werden, dass die alltägliche journalistische Arbeit, wie zum Beispiel der Schutz von Informanten oder die aktive Suche nach Verschlusssachen, eine Straftat darstellen würde. Ziel von Dobbin und Smith war es, den Status von Assange als Journalist zu untergraben. Aufgrund der begangenen „Verbrechen“ sei keine Strafe zu hart für Assange, meinte der US-Anwalt Smith. „Die USA versuchen eindeutig, Journalismus zu einem Verbrechen zu machen, auch außerhalb der USA“, kommentierte der Journalist Medhurst.

Schließlich argumentieren die Anwälte der britischen Regierung, dass sie nicht zwischen dem Auslieferungsvertrag und dem Auslieferungsgesetz unterscheiden können und mit dem Gesetz arbeiten müssten. Der Auslieferungsvertrag fällt von Anfang an also zugunsten der USA aus – sie können durch falsche Anschuldigungen eine Auslieferung von Großbritannien forcieren. Auch die zusätzlichen Anklagen und die Verhängung der Todesstrafe sei für die USA möglich, ohne dass Großbritannien etwas dagegen tun könnte.

Entscheidung vertagt

Am gestrigen 26. März hat der High Court die Entscheidung auf eine weitere Anhörung am 20. Mai vertagt. Damit ist die Auslieferung aber nicht gestoppt. Der High Court fordert von den USA bis zum 16. April eine Zusicherung, dass keine Todesstrafe verhängt werde und sich Assange, unabhängig von seiner Nationalität, in den USA auf das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (erster Verfassungszusatz) berufen dürfe. Es stehe den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Außenminister frei, Zusicherungen zu geben. Doch ohne diese Zusicherungen sei eine Auslieferung nicht mit der EMRK vereinbar und das Gericht würde Assanges Berufungsantrag zulassen. Wie Medhurst bereits bei den Anhörungen bemerkte, hätten derartige Zusicherungen jedoch keinen Wert, da man den USA in solchen Dingen nicht trauen könne. Dass die USA dabei in gutem Glauben handeln würden, könnte man angesichts der Vorhaben der US-Präsidenten (Entführung, Mord) durchaus bezweifeln.

Die drei Punkte, die das britische Gericht als Zusicherung verlangt, entsprechen auch den Punkten, denen mit diesem Urteil in Assanges Berufungsantrag zugestimmt wurde. Die restlichen sechs von neun Punkten wurden abgelehnt. Dabei erklärte das Gericht in dem gestrigen Urteil, dass eine Auslieferung aufgrund einer politischen Straftat sowohl mit dem britischen Gesetz als auch mit der EMRK vereinbar sei. Trotzdem würde Assange nicht wegen seiner politischen Ansichten, sondern den Straftaten verurteilt, die er begangen habe, zum Beispiel die Weitergabe von Informationen und die Offenlegung seiner Quellen.

Unterstützung für Assange

Seit den Enthüllungen von WikiLeaks gilt Julian Assange als kontroverse Figur: Für die einen ist er ein Cypherpunk und Investigativjournalist, der die Transparenz von Regierungen und großen Institutionen fördern möchte und für Pressefreiheit und gegen Korruption sowie Machtmissbrauch kämpft. Sie sehen in Assange alles andere als einen Kriminellen. Für andere ist er jedoch genau das: ein gefährlicher Aktivist und Staatsfeind, der die nationale Sicherheit vieler Länder gefährdet.

Das australische Parlament, diverse Institutionen und Menschenrechtsorganisationen, zahlreiche Journalisten, Politiker und berühmte Persönlichkeiten sowie natürlich viele Anhänger der Bitcoin-Community haben Assange in den vergangenen Jahren unterstützt und die USA und Großbritannien aufgefordert, die Verfahren gegen ihn einzustellen und ihn ungehindert als freien Mann in sein Heimatland Australien zurückkehren zu lassen. Dafür steht der Hashtag #FreeAssange.

Aus dem EU-Parlament erhielt Assange von 46 Parlamentariern Unterstützung. Sie hatten zum Start des Auslieferungsverfahrens noch einen ähnlichen „letzten Appell“ an den britischen Innenminister gerichtet.

Die Inhaftierung und strafrechtliche Verfolgung von Assange ist ein extrem gefährlicher Präzedenzfall für alle Journalist:innen, Medienakteure und die Pressefreiheit. Jeder Journalist könnte künftig für die Veröffentlichung von ‘Staatsgeheimnissen’ strafrechtlich verfolgt werden. […] Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, von den von Machthabern begangenen Staatsverbrechen zu erfahren, damit sie diese stoppen und vor Gericht bringen können. Julian Assange hat mit Wikileaks eine Ära eingeläutet, in der Ungerechtigkeit nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden kann – jetzt liegt es an uns, Transparenz, Rechenschaftspflicht und unser Recht auf Wahrheit zu verteidigen.
Statement von Dr. Patrick Breyer, EU-Abgeordneter der Piratenpartei Deutschland

Doppelmoral der Politiker

Die Fraktion der Piraten hat zudem durch eine Abstimmung dafür gesorgt, dass sich das EU-Parlament am 28. Februar in einer kurzen Debatte mit der „Auslieferung und Verfolgung von Julian Assange und den Auswirkungen auf die Pressefreiheit“ beschäftigen musste. Man muss jedoch erwähnen, dass die Debatte nicht zustande gekommen wäre, wenn das gesamte EU-Parlament bei der Abstimmung anwesend gewesen wäre. Dies spiegelt letztlich die Haltung des Parlaments wider. Bisher war das Thema für den Rest der 705 EU-Parlamentarier nämlich nicht kommentarwürdig, zumindest nicht, wenn es die USA betrifft. Andere Länder hatte man hingegen durchaus für die Einschränkung oder das Fehlen der Pressefreiheit, die Verletzung bürgerlicher Freiheiten und Menschenrechte oder auch Kriegsverbrechen kritisiert. Bei den Verbündeten USA schaut man lieber weg und lässt an Assange ein Exempel statuieren.

Dementsprechend klein war das Interesse an der abendlichen Debatte mit circa zwanzig Abgeordneten. Dabei haben einige der 46 Abgeordneten, die Assange unterstützen, erneut das Engagement der EU eingefordert, sich bei der britischen Regierung für die Freilassung von Assange und somit den Schutz von Investigativjournalisten einzusetzen. Der Sprecher der EU-Kommission, Thierry Breton, bekannte sich zur Unablässigkeit einer freien, unabhängigen Presse und der freien Meinungsäußerung für eine demokratische Gesellschaft. Doch er hielt es nicht für notwendig, Einfluss auf die britische Regierung zu nehmen und wollte sich zu dem laufenden Verfahren nicht weiter äußern. Das britische Gericht müsse über die Verhältnismäßigkeit von Strafen gegen Journalisten entscheiden. Das tatenlose Zusehen des EU-Parlaments ist für viele Menschen ein Versagen der Politik, die eigenen Werte uneingeschränkt zu verteidigen.

Und die deutsche Regierung?

Ähnlich verhält es sich mit der deutschen Regierung. Während einige Parlamentarier vereinzelt ihre Unterstützung für Assange verkünden und Annalena Baerbock zu Zeiten der großen Koalition aktiv für die Freilassung von Assange warb, könnte man eigentlich erwarten, dass sich die jetzige Ampelregierung aktiv für die weltweite Pressefreiheit einsetzt. Auch im Koalitionsvertrag 2021 von SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ist dieser Aspekt verankert:

Zivilgesellschaften – insbesondere Journalistinnen, Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und andere Menschenrechtsverteidiger – sind unverzichtbar für den Aufbau und Erhalt funktionierender Gemeinwesen. Wir verpflichten uns, diese Menschen und ihre Arbeit in besonderer Weise zu stärken und zu schützen, auch bei grenzüberschreitender Verfolgung. In diesem Zusammenhang wollen wir die Aufnahme von hochgefährdeten Menschen vereinfachen und einen sicheren Antragsweg gewährleisten.
Koalitionsvertrag 2021, SPD, FDP, Bündnis90/Die Grünen, S.116

Trotzdem hörte man von der aktuellen Regierung relativ wenig, vermutlich um sich nicht in die Prozesse der britischen Justiz einzumischen. Mit den Ministerämtern haben Baerbock und Habeck scheinbar auch einen doppelmoralischen Maulkorb aufgesetzt bekommen. Offizielle Anfragen von Medienvertretern wurden mehr oder weniger ignoriert. Am 4. März hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf einer Podiumsdiskussion in einer Schule in Sindelfingen allerdings gegen die Auslieferung von Assange ausgesprochen, nachdem ein Schüler ihn danach gefragt hatte. Assange müsse in den USA mit Folgen rechnen, die nicht im Sinne Großbritanniens seien. Aus diesem Grund wäre der Schutz durch die britische Regierung „schon gut“, erklärte Scholz.

Mit dem gestrigen Urteil bzw. der Einforderung von Zusicherungen hat das britische Gericht gezeigt, dass es mit einigen Punkten nicht einverstanden ist. Doch letztlich ist entscheidend, inwiefern man diesen Zusicherungen trauen kann. Aus diesem Grund wurde Scholz von Dr. Patrick Breyer, Mitglied des EU-Parlaments, erneut aufgefordert, sich nicht auf die Gerichte zu verlassen, sondern selbst politische Verantwortung zu übernehmen. Scholz soll den britischen Innenminister direkt um die Freilassung von Assange bitten.

Ein verheerendes Zeichen für den Journalismus

Der Fall Assange hat zu bedeutenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskussionen und Veränderungen auf der ganzen Welt geführt. Er hat wichtige Fragen zu der Balance zwischen Transparenz und Sicherheit, die Rolle von Whistleblowern, die ethischen Verpflichtungen von Journalisten sowie die Grenzen der staatlichen Geheimhaltung und des journalistischen Schutzes in der digitalen Ära aufgeworfen.

Mit dem gestrigen Urteil wurde die endgültige Entscheidung über die Auslieferung von Assange zwar vertagt, doch die Ablehnung der meisten Punkte des Berufungsantrags ist ein verheerendes Zeichen für alle Journalisten. Wenn sie für ihre Arbeit politisch verfolgt werden und ihr Leben gefährden, hat das auch Auswirkungen auf die unabhängige journalistische Arbeit. Für viele ist das eine Enttäuschung und ein Armutszeugnis: Es ist ein Verbrechen gegen den freien Journalismus, denn freier Journalismus ist kein Verbrechen.

Sollten die Zusicherungen der USA erfolgen und Assanges Auslieferung Ende Mai gerichtlich beschlossen werden, kann Assange noch Berufung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im französischen Straßburg einlegen.